Mutmaßliche Linksextremisten wollen sich stellen
Im Februar 2023 sollen mutmaßliche deutsche Linksextremisten Teilnehmer eines SS-Gedenkens in Budapest angegriffen haben. Seitdem werden sie gesucht. Nun möchten sich einige nach MDR-Informationen stellen – unter bestimmten Bedingungen.
Schon aus der Ferne war es deutlich zu hören: das Geräusch von Metallketten und -fesseln, die beim Laufen aneinander klackern. Mit Hand- und Fußfesseln gebunden und an die Aufseher gekettet, wurden Ilaria Salis und Tobias E. Ende Januar von vermummten Wärtern in den Verhandlungssaal des Budapester Stadtgerichts geführt. Es war der hör- und sichtbare Ausdruck der Haftbedingungen, die von der Italienerin Salis als in Teilen miserabel beschrieben wurden.
Es sind diese Eindrücke, die mehrere Männer und Frauen dazu bringen, dem MDR exklusiv ein Interview zu geben. Sie sind die Eltern mutmaßlicher deutscher Linksextremisten, die untergetaucht sind. Gesucht werden sie im Zusammenhang mit einem Angriff auf Teilnehmende eines SS-Gedenktages in Budapest. Einige der mutmaßlichen Linksextremisten sind offenbar bereit, sich bei der Polizei zu melden.
„Mehrere der Beschuldigten sind bereit, sich den Behörden zu stellen“, sagt Wolfram Jarosch, ein Vater, dessen Kind beschuldigt wird, sich am Angriff beteiligt zu haben. „Sie möchten aber, dass ihnen zugesichert wird, dass sie nicht nach Ungarn ausgeliefert werden, dass sie hier in Deutschland bleiben können. Wir als Eltern wissen das von Anwälten der Kinder“, sagt Jarosch. Sein Kind wurde bereits festgenommen und befindet sich derzeit in der JVA Dresden.
Haftbedingungen in Budapest als Auslöser für Appell
Die deutschen und ungarischen Ermittlerinnen und Ermittler suchen wegen der Vorfälle in Budapest im Februar 2023 insgesamt neun weitere Deutsche. Es liegen Haftbefehle vor. Sie sollen gemeinsam mit Ilaria Salis und Tobias E. vermeintliche Besucher des SS-Gedenkens „Tag der Ehre“ angegriffen und niedergeschlagen haben. Das rechtsextreme Treffen findet jedes Jahr in Budapest statt.
Unter den Gesuchten befinden sich zwei Männer, die von Ermittlern dem Umfeld der in Dresden wegen Mitgliedschaft in einer linksextremistischen, kriminellen Vereinigung verurteilten Lina E. zugerechnet werden. Einer von ihnen ist ihr Verlobter, Johann G. Andere jedoch sind junge Frauen und Männer aus Sachsen und Thüringen – bislang ohne nachweisbares Bekanntschaftsverhältnis zur verurteilten Leipziger Studentin.
Eine Mutter, die anonym bleiben möchte, sagt im Interview mit dem MDR zu den Beweggründen für den Schritt des öffentlichen Appells. „Zu den Vorwürfen möchte ich mich nicht äußern. Das ist nicht unser Part, als Eltern uns zu Schuld und Unschuld zu äußern“, so die Frau. „Und es ist auch nicht die Zeit, jetzt darüber zu reden. Das, was wir Eltern fordern, ist ein fairer und rechtsstaatlicher Prozess hier in Deutschland.“ Das sei die einzige Chance für diese jungen Menschen.
„Wir als Eltern glauben daran, dass diese jungen Menschen so wie alle anderen Menschen ein Recht haben auf rechtsstaatliche Verfahren und im Falle einer Verurteilung auch auf menschenwürdige Haftbedingungen und auf eine Perspektive danach – auf eine Resozialisierung“, betont die Mutter. Und das sei nur in Deutschland möglich.
Salis berichtete von Kakerlaken in Zelle
Die Haftbedingungen im ungarischen Gefängnis sind Thema, seit der Fall von Salis in ihrem Heimatland Italien besonders viel Aufmerksamkeit erzeugt hat. Ende vergangenen Jahres wurden in der Presse Auszüge eines Briefes von ihr an ihren Vater zitiert. Darin beklagt sie teils miserable Haftzustände. Unter anderem sei ihre Zelle nur knapp drei Quadratmeter groß und von Bettwanzen und Kakerlaken befallen.
Sie erhalte nur unzureichende Nahrung und hygienische Artikel wie Tampons und Binden seien ihr mehrfach verwehrt worden. Sie habe stattdessen Wattebüschel für ihre Menstruationsblutung nutzen müssen.
Während über Salis‘ Fall in Italien eine öffentliche Debatte entstanden ist, die mittlerweile sogar Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, eine Postfaschistin, dazu veranlasst hat, sich bei ihrem Duzfreund Viktor Orban für die Antifaschistin Salis einzusetzen, findet das Thema in Deutschland bislang kaum Beachtung.
Lili Kramer arbeitet für das Ungarische Helsinki Komitee. Die Menschenrechtsorganisation befasst sich seit 1989 mit dem Zustand des ungarischen Justiz- und Gefängnissystems. Im Interview mit dem MDR erklärt sie, dass die von Salis beschriebenen Haftbedingungen keine Ausnahmen seien: „In einem anderen Fall wurde ein Häftling in einer Zelle isoliert und dort dann tagelang ohne Toilettenpapier gelassen.“ Generell sei das ungarische Gefängnissystem durch Überbelegung und Personalmangel gekennzeichnet. Dies führe häufig zu Zwist zwischen Wärtern und Gefangenen.
Stopp von Auslieferungen nur unter engen Bedingungen
Doch könnte Deutschland überhaupt eine Auslieferung ins EU-Ausland verhindern? Sören Schomburg ist Experte für Fragen des Auslieferungsrechts. Er hat bereits den katalanischen Separatistenführer Carles Puigdemont sowie den Whistleblower Julian Assange vertreten. Im Gespräch mit dem MDR erklärt er, dass Deutschland prinzipiell ins EU-Ausland ausliefere. Es gebe jedoch eine Einschränkung: „Die Bundesrepublik Deutschland darf sich nicht an Auslieferungen beteiligen, wenn es zu einer Menschenrechtsverletzung führen würde oder wenn auch nur das Risiko besteht.“
Zu Menschenrechtsverletzungen zählen laut Schomburg zum Beispiel kein faires Verfahren zu erhalten oder gefoltert zu werden, aber auch einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt zu werden. Vor allem die Haftbedingungen seien typischerweise ein Grund, Auslieferungen abzulehnen, ergänzt er. Diesbezüglich habe es in der Vergangenheit schon Entscheidungen gegen Auslieferungen nach Ungarn, Rumänien, aber auch Großbritannien gegeben.
Allerdings reiche es nicht aus, wenn Anwälte beispielhaft allgemeine Rechtsstaatsdefizite oder allgemeine Mängel an den Haftbedingungen beschreiben, erklärt Schomburg. Sie müssten ganz konkret im Einzelfall die Gefahr darlegen, dass es zu solchen Umständen kommen kann.
Etwaige Zusage offenbar an Geständnisse geknüpft
Das von den Eltern der untergetauchten Personen nun öffentlich gemachte Angebot ist für die Generalstaatsanwaltschaft Dresden nicht neu, sagt Jarosch: „Die Rechtsanwälte haben sich auch an die Generalstaatsanwaltschaft Dresden gewandt.“ Das Anliegen sei dieser wiederholt unterbreitet worden. „Dazu muss man grundsätzlich sagen, dass die Generalstaatsanwaltschaft die rechtliche Möglichkeit hat, eine Auslieferung zu verhindern.“
Allerdings knüpfe die Generalstaatsanwaltschaft Dresden eine etwaige Zusage bisher daran, dass die Beschuldigten bei ihrer Festnahme sofort umfangreiche Geständnisse ablegen – wohl um langwierige Verfahren zu vermeiden, erklärt Jarosch.
Vor der Drohkulisse der seiner Meinung nach unmenschlichen Haftbedingungen könne das nicht sein, so der Vater. „Es gilt doch die Unschuldsvermutung. Ich kann doch nicht fordern oder wollen, dass dort irgendwer irgendetwas gesteht. Das muss doch in einem fairen, rechtsstaatlichen Verfahren ermittelt werden, was passiert ist“, betont Jarosch.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden äußerte sich trotz mehrfacher Anfragen nicht, um „die sachgemäße Durchführung des laufenden Verfahrens“ nicht zu gefährden, hieß es.